Dienstag, 29. November 2022

Für realpolitische Volksschulperspektiven

Der Perspektivenbericht «Volksschule 2030» bringt noch keinen konkreten Nutzen für die Volksschulpraxis. Humanistisch inspirierte Idealisierungen nützen den belasteten Fachpersonen sowie den Kindern und Jugendlichen nichts. Die Perspektiven müssen realitätsnah die bestehenden Rahmenbedingungen integrieren.

Perspektiven der Volksschule 2030

Die Perspektiven der Volksschule in den Schulalltag tragen

 

Bereits im Vorfeld der Session haben wir betont, dass der lange und ausführliche Bericht der Perspektiven der Volksschule zwar inhaltlich fundiert und aber sehr theoretisch geschrieben ist. Die folgenden vier Perspektiven sollen die Volksschule im Kanton St.Gallen in den nächsten Jahren prägen:

  1. Bildung für die Kinder und Jugendlichen – Bildung für die Gesellschaft
  2. Praxis der Förderung – Praxis der Selektion
  3. Wissen erschliessen – Gewissheit schaffen
  4. Ort der Stabilität – Ort der Flexibilität

 

Aus Sicht der Grünliberalen ist es fundamental, dass diese theoretischen Perspektiven auf ihre Umsetzbarkeit in der realen Schulwelt geprüft werden. Die konkreten Massnahmen müssen partizipativ mit den Playern aus dem Schulalltag erarbeitet werden. Kantonsrätin Sarah Noger-Engeler, selbst Primarlehrerin, wies im Rat auf die enorme Belastungssituation von Lehrpersonen in der Volksschule hin (siehe unten). Es ist zentral zu verstehen, dass die vielseitigen Anforderungen an eine Lehrperson heute die Belastungsgrenzen oft übersteigen. Die hohe Burnout-Rate von 30% sowie Junglehrpersonen, die nach wenigen Jahren dem Beruf den Rücken kehren, sind deutliche Warnzeichen. Es ist wichtig, konkrete Lösungen zu finden – zum Wohl der Kinder, der Lehrpersonen und unserer Gesellschaft. Die Grünliberalen haben sich deshalb auch im Rat für eine Revision des Volksschulgesetzes ausgesprochen.



30.11.2022

Der Perspektivenbericht «Volksschule 2030» wurde bereits Anfang 2022 veröffentlicht – und ist nun endlich an der Novembersession traktandiert. Aus grünliberaler Sicht bringt der Bericht noch keinen konkreten Nutzen für die Volksschulpraxis. Die detailliert ausgeführten vier Perspektiven sind im Grundsatz richtig – bleiben aber zu vage. Massnahmen sollen im Nachgang partizipativ erarbeitet werden. Das ist zwar zu begrüssen, aber Umsetzungsvorschläge hätten den Schulträgern erste Ideen und Perspektiven für die Praxis liefern können. Schlussendlich werden die Rahmenbedingungen entscheidend sein. Humanistisch inspirierte Idealisierungen nützen den belasteten Fachpersonen sowie den Kindern und Jugendlichen nichts. Die Perspektiven müssen realitätsnah die bestehenden Rahmenbedingungen integrieren (z.B. Lehrpersonenmangel, Therapeut:innenmangel, Raumkapazitäten) und, wo möglich, Massnahmen zur Veränderung anstossen. Für die Umsetzung müssten zeitliche, finanzielle und personelle Ressourcen bereitgestellt werden.


 

Sarah Noger-Engeler im Namen der Grünliberalen
 

Insgesamt erfüllt der sehr umfassende Bericht leider nicht unsere Erwartungen. Die Perspektiven bleiben sehr theoretisch. Das Ansinnen, die Massnahmen, welche zur Erreichung der Perspektiven nötig sein werden, partizipativ zu erarbeiten ist zu begrüssen. Im Perspektivenbericht erwarteten wir aber erste Umsetzungsanregungen oder -vorschläge, damit die Basis, sprich die Schulträgererste Handlungsansätze denken könnten.

 

Die vier formulierten Perspektiven sind im Grundsatz richtig –die grosse Aufgabe steht aber nun bevor: Vom Wunschdenken und Idealismus zu einer funktionierenden Realität zu kommen.

 

Im Hintergrund der Perspektiven steht ein bejahendes Menschenbild – die Schulen anerkennen die Gleichheit der anvertrauten Kinder und Jugendlichen trotz oder gerade wegen der hohen Heterogenität in Entwicklung, intellektuellen Fähigkeiten und individuellem Verhalten. Die Maxime: Chancengleichheit in Entwicklung und Bildung durch Individualisieren und Integration. Im Bericht ist zu lesen: Die Schule muss bereit sein für die Kinder.

 

Und nun ein Blick in die Praxis. Ich weiss nicht, wann Sie das letzte Mal konkret mit der Volksschule – mit dem alltäglichen Unterricht zu tun hatten. Ich stehe 4 Tage in der Woche im Klassenzimmer, nun bereits in meinem 26. Dienstjahr. Meine Schülerinnen und Schüler sind sehr divers, das mag ich – es macht meine Arbeit immer wieder anders – es ist aber mit den geltenden Rahmenbedingungen immer schwieriger. Als Klassenlehrperson trage ich die Verantwortung für die schulische Entwicklung der Kinder und ihr Wohlergehen während der Schulzeit.

 

Ich beschreibe eine Modellklasse, so oder ähnlich hatte ich diese in meiner Zeit als Lehrerin – es ist aber nicht meine aktuelle Klasse:Doppelklasse (Zweijahrgänge, d.h. in der Regel 4 Altersstufen): 19 Kinder, davon zwei Kinder mit einer diagnostizierten autistischen Spektrumstörung, eines von eher lautem Verhalten, fehlende Frustrationstoleranzund enormer Introvertiertheit, scheu und still, ein Kind mit einer Angststörung – d.h. es verkriecht sich unter der Bank bei jeglicher Art von Frust, zwei Kinder mit einem psychisch belasteten Elternteil – d.h. auch stationäre Behandlung, sechs Kinder besuchen die Logopädie, ein Kind die Psychomotorik, ein Kind, bei welchem ein besonderer Förderbedarf festgestellt wurde, zur Vorstellung, das Kind hat dann in drei Schuljahren den Zahlbegriff bis 5 gelernt.

 

Die Klassenlehrperson trägt die Verantwortung: Für den individualisierten Unterrichtsverlauf, in der Regel 2 bis 4 verschiedene Lernpläne pro Jahrgang, das Lernen der Kinder organisieren, coachen und feedbacken (das Feedback ist eine der wirksamsten Methoden für erfolgreiches Lernen, das wissen wir seit der Metastudie von Hattie). Das braucht Zeit: Wenn die Lehrperson mit jedem Kind einmal pro Woche für 5 Minuten ein Feedbackgespräch führen will, braucht sie dafür 2 Wochenlektionen – 2 volle Lektionen, in welchen die anderen Kinder keine Aufmerksamkeit haben – deshalb werden in der Theorie oft Teamteachinglektionen dafür eingesetzt. Wenn aber ein einzelnes Kind dann gerade wegläuft, sich verweigert, sich eingenässt hat oder Unterstützung braucht, weil es in der Pause hingefallen ist – dann war es das mit diesem Zeitgefäss.

 

Die Verantwortung trägt dabei immer die Klassenlehrperson.

 

Neben dem Unterrichtsverlauf werden ausserschulische Lernorte geplant, Elterngespräche – immer öfter doppelt, da geschiedene Eltern, welche nicht mehr miteinander kommunizieren können/wollen, Anrecht haben auf individuelle Gespräche – Anmelden von Abklärungen, Gespräche wie Runde Tische (mit bis zu 8 Beteiligten), Kontakte und Austausch mit Fachpersonen wie Therapeut:innen, Kinderärzt:innen, Beistände, Hortmitarbeiter:innen, besorgten neuen Partner:innen der Kindseltern, usw.

 

Das braucht Zeit und für die Koordination trägt die Klassenlehrperson die Verantwortung.

 

Klassen mit hohem Anteil von Kindern, deren Eltern kein oder wenig Deutschkenntnisse haben, vervielfachen den Aufwand zusätzlich. Multikultureller Hintergrund der Schülerschaft bereichern den Schulalltag – aber oftmals bedeutet es ein Vielfaches an Aufwand. Bereits Alltagskommunikation (z.B. das Kind kommt immer zu spät, das Kind erscheint nicht, das Kind macht die Hausaufgaben nicht) werden zu einer Herausforderung, wenn die Person, welche das Telefon entgegennimmt, kein Deutsch spricht.


Das braucht Zeit, viel Fantasie und Kreativität und die Verantwortung trägt stets die Klassenlehrperson. Ich als Klassenlehrperson mache das – es ist meine Aufgabe als Klassenlehrerin – ich bin die Erwachsene, die Fachperson und fühle mich als Anwältin für die mir anvertrauten Kinder. Ich möchte diese alle bestmöglich fördern und fordern, damit sie in der Welt von Morgen bestehen können. Es erfüllt mich, wenn ich ein Kind in seinem Lernweg erfolgreich begleiten konnte.

 

Im Idealfall lohnt sich der Aufwand. Ich als Lehrperson sehe die Fortschritte, habe einen konstruktiven Austausch mit den Eltern und auch die Klasse wächst daran, dass alle Kinder in ihrer Unterschiedlichkeit dazugehören können.


Aber: Was, wenn die Entwicklung der Kinder stagniert? Wenn einige gar psychisch leiden oder aber mit ihrem Verhalten andere Kinder vom Lernen abhalten? Wenn der Lärmpegel im Schulzimmer Lernen verunmöglicht und die Nerven blank liegen? Was wenn die Zeitressourcen der Lehrperson insgesamt von wenigen Kindern absorbiert werden und die anderen Kinder auf der Strecke bleiben?

 

Vor ungefähr 7 bis 10 Jahren sagte mir ein scheues, sehr intelligentes Mädchen aus der ersten Klasse: Aber Sie Frau Noger, üs gits doch au no! Das öffnete mir nachhaltig die Augen! Bis heute! Es gibt in der Praxis mit den heutigen Rahmenbedingungen klare Grenzen der Integration! Integration ist nur dann sinnvoll, wenn unter dem Strich mindestens eine Partei gewinnt – und die anderen nicht signifikant verlieren. Ich als Lehrperson trage immer die Verantwortung.

 

Jede Integrationssituation muss individuell angegangen werden. Das integrierte Kind ist still und depressiv, weil es mit seinem Verhalten sozial immer wieder aneckt? Sind still leidende Kinder besser integrierbar und ich muss den Leidensdruck des Kindes als Lehrperson ignorieren, da ich schlicht keine Zeit habe? Andere Kinder trauen sich nicht mehr in die Schule, weil der agressive Erstgix bereits nach 5 Wochen schulhausbekannt ist, da jedes Kind bereits mindestens einmal eine kassiert hat? Kinder, die sich selber organisieren können, werden irgendwann sich selber überlassen – im selbstorganisierten Lernen – ohne das für die Wirksamkeit dieser Methode unerlässliche Feedback der Lehrperson – es fehlt die Zeit – aber ich trage die Verantwortung!

 

Was sind denn die Rahmenbedingungen:

 

Fachpersonalmangel: Was nützt die Idee von Integration von Kindern ohne Deutschkenntnisse (aus humanistischer Sicht ganz klar der richtige Weg), wenn für die gesprochenen DAZ-Stunden keine ausgebildete Lehrperson gefunden werden kann? Ja, es wäre toll, die Kinder vor Ort im Schulhaus zu beschulen, aber nicht von ungeschulten Hilfskräften. Die Förderung wäre fachlich klar sinnvoller, wenn diese von einer Fachperson gestaltet wird – dann halt in einer Gruppe an einem zentralen Ort.

 

Tatsache: Es gibt Entwicklungsstörungen, zu deren Therapie die Regellehrperson nicht ausgebildet ist. Wenn vor Ort im Schulhaus die Ressourcen nicht vorhanden sind, dann ist eine Sonderbeschulung der bessere Weg. Heute wird aus Angst, man könne als intolerant oder faul wahrgenommen werden, viel zu spät erkannt, wo die Grenzen der Integration sind. Und wenn sie erkannt werden, dann stellt der Kanton nach wie vor zu wenige Sonderschulplätze zur Verfügung. Vor Ort in den Schulen gehen die persönlichen Schicksale weiter und die Klassenlehrperson – sie trägt die Verantwortung – kann nur zusehen, wie an dieser Situation das betroffene Kind, die Eltern, die Klasse und nicht zuletzt die Lehrperson selbst verzweifelt. Man weiss schon lange: je früher die Intervention, desto kürzer! Betroffene, nun erwachsene Personen, erzählen oft von jahrelangem Leidensdruck, bis sie endlich therapeutische Hilfe erhielten. Psychische Störungen bei Kindern und Jugendlichen nehmen zu – die Schule, Versagensängste und soziale Ausgrenzung sind dabei auch Auslöser und ich als Lehrperson trage die Verantwortung?

 

Tatsache: Der Leidensdruck muss im Moment immer unerträglich hoch sein, bis endlich gehandelt wird. Der Leidensdruck bei Kind, Eltern, Lehrperson oder Betreuung. Lehrpersonen tendieren dazu, sich einreden zu lassen, dass es ihr Versagen sei, wenn die Integration nicht gelinge. Wir müssen diese Scham ablegen – zum Wohl der uns anvertrauten Kinder: Wenn es nicht geht, dann sind die Rahmenbedingungen falsch – nicht das Kind und nicht die Lehrpersonen! Die Schule muss bereit sein für die Kinder! –und die Politik muss dafür sorgen, dass diese Maxime kein Papiertiger wird.

 

Mein Appell heute: Integration ist die richtige Haltung. Aber nicht, wenn alle verlieren. Wir müssen Realpolitik machen, d..h. für Kinder, Eltern und Lehrpersonen einen Unterrichtsalltag ermöglichen, der allen Kindern eine möglichst optimale Entwicklung ermöglicht. Integration als Haltung nicht als Diktat. Realistisch mit den Rahmenbedingungen umgehen, die wir haben: Fachpersonen sinnvoll einsetzen –mit Schulmodellen, die umsetzbar sind, den Kindern reelle Lernchancen bieten und mir nicht einen imaginären Heiligenschein als Gutmensch ausstellen.

 

Warum werden immer mehr Lehrpersonen im Beruf krank? Die Bournoutrate liegt bei 30%! Warum arbeiten die Lehrpersonen nicht 100%? Das wäre ja eine so praktische Lösung. Warum resignieren viele Junglehrpersonen und wechseln nach wenigen Jahren den Beruf? Die Klassenverantwortung tragen im Moment bereits 9 Personenim Kanton, welche keinerlei fachspezifische Ausbildung besitzen – geht das, ohne dass die Entwicklung der Kinder oder auch die psychische Gesundheit der Person selbst gefährdet wird?  Wenn Sie mir aufmerksam zugehört haben, können Sie sich die Fragen nun selbst beantworten.

 

Ich komme nochmals kurz zurück zur Klassenlehrperson: Wenn ich wieder allen Kindern reelle Lernchancen bieten kann und diese reüssieren, dann trage ich gerne diese grosse Verantwortung! Denn dann kann ich tun, was das Schönste im Beruf ist: Alle mir anvertrauten Kinder auf ihrem Weg in ein selbständiges Lernen und Leben zu begleiten. Ziel von Pädagogik und Gesellschaft ist noch immer der mündige Bürger – die mündige Bürgerin! Wirtschaftlich betrachtet unser zukünftiges Humankapital, welches die Zukunft unserer schönen Schweiz sichert.


Wir sind für Eintreten und werden die Anträge der vorberatenden Kommission unterstützen.